Aus gutem Grund verwarf die Frühpädagogik in den 1970er und 80er Jahren einen Ansatz, der schulisches Lernen in die Kita vorverlegte. Die Fachleute entschieden sich stattdessen dafür, Kita-Kindern ein ganzheitliches, interessegeleitetes Lernen zu ermöglichen. Jetzt soll in Berliner Kindertagesstätten die alte Frühförderung eine Renaissance erleben. Der Deutsche Kitaverband wehrt sich.

Schock im Jahr 2000: Die internationale Bildungsvergleichsstudie PISA wies deutschen Schülerinnen und Schülern im Ländervergleich nur einen Platz im unteren Drittel zu. Und ein weiteres Problem wurde offenkundig: Dem System Schule gelang es nicht, soziale Ungleichheiten zu nivellieren. 2019 haben sich die deutschen Schülerinnen und Schüler zwar verbessert und sind über den Durchschnitt geklettert. Die soziale Kluft bleibt jedoch bestehen. Die aktuelle politische Zielsetzung lautet daher zu Recht: In die Spitzengruppe vordringen und möglichst alle Kinder mitnehmen. Im Fokus der Studien steht die Schule – hinterfragt wird jedoch das gesamte Bildungssystem inklusive der Kitas. Denn sie bilden die erste Stufe dieses Systems. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz stattete sie mit einem weitreichenden eigenständigen Bildungsauftrag aus.

Disput: Was bedeutet Lernen in der Kita?

Seit die Kitas diesen Bildungsauftrag haben, streiten Fachleute über dessen Umsetzung und das „richtige Lernen“. In den 1970er Jahren gab es eine heftige Auseinandersetzung über den Umgang mit Fünfjährigen. Denjenigen, die sich für eine verschulte Frühförderung aussprachen, standen diejenigen gegenüber, die für eine ganzheitlichen Förderung votierten.

Ganzheitliches Lernkonzept setzt sich durch

Umfangreiche Modellversuche beantworteten die Streitfrage letztlich zugunsten eines ganzheitlichen Förderansatzes. Theoretische Forschung und empirische Untersuchungen hatten gezeigt, dass eine verschulte Frühförderung nicht dem entwicklungspsychologischen Stand fünfjähriger Kinder entspricht.

Widerlegte Frühförderansätze kommen wieder

Doch die eigentlich widerlegten Frühförderansätze erfahren immer wieder eine Renaissance. Ein Beispiel dafür ist der missglückte Versuch, das Einschulungsalter in Berlin auf fünf Jahre vorzuziehen.

Jetzt soll das Rad einmal mehr zurückgedreht werden: Der bis dato eher ganzheitliche Lernansatz in Berliner Kitas soll – so die Planung – einer verschulten Frühförderung weichen. Den Namen des seit 15 Jahren erfolgreichen „Berliner Bildungsprogramms“ möchten die Verantwortlichen zwar behalten, den methodische Ansatz jedoch um 180 Grad drehen – ein Etikettenschwindel.

Empfehlungen eines schulisch geprägten Fachgremiums

Eine vorrangig aus dem schulischen Kontext kommende Expertinnen- und Expertenrunde berät Bildungssenatorin Julia Scheeres zu Maßnahmen für eine Qualitätsverbesserung in der Kitaarbeit. Würden die Empfehlungen umgesetzt, ergäben sich unter anderem folgende Konsequenzen:

Vorgegebene Vermittlungs- und Fördereinheiten

Sogenannte „Funktionsstellen“ (die nicht auf den Stellenschlüssel angerechnet werden) würden die Kita-Teams künftig befähigen, vorgegebene Vermittlungseinheiten in den Bereichen Sprache und Mathematik mit den Kindern durchzunehmen. Außerdem würden die Erzieherinnen und Erzieher darin geschult, mit Kindern mit besonderem Förderbedarf spezielle Fördereinheiten zu erarbeiten. Dabei müssten sich die Teams an eine verbindliche Wochenplanung halten und die zur Verfügung gestellte Methoden- und Material-Toolbox nutzen.

Alle drei- und vierjährigen Kinder würden in den Bereichen sprachliche Entwicklung, Rechenfähigkeiten und Selbstregulation diagnostiziert. Die einzusetzende Diagnostik entwickelt das Institut für Schuldiagnostik. Die Durchführung obliegt den „Funktionsstellen“. Anhand der Ergebnisse erstellen sie Förderpläne für Kinder mit diagnostiziertem Unterstützungsbedarf. Die Betroffenen durchlaufen dann – zusätzlich zu den Vermittlungseinheiten in den Bereichen Sprache und Rechnen – ihre zusätzlichen Fördereinheiten.

Prüfung statt Evaluierung

Damit wird ein seit zehn Jahren implementiertes Evaluierungsverfahren in ein Prüfverfahren verwandelt. Geprüft wird ebenfalls, ob und in welcher Form die Kitas das verbindliche Bildungsprogramm umsetzen – insbesondere in den Bereichen Sprache und Mathematik. Aus den Ergebnissen der externen Evaluierung sollen dann verbindliche Qualitätsentwicklungsmaßnahmen abgeleitet werden.

Eltern müssen mitmachen

Die Veränderungen hätten auch Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit den Eltern: Aus der bisherigen Partnerschaft auf Augenhöhe wird eine stärker direktive Zusammenarbeit. Die Beteiligten stimmen dann nämlich ab, welche Unterstützung die Eltern bei der Umsetzung der Lern- und Förderpläne im häuslichen Bereich leisten können.

Dafür verweist die Kita auch auf Familienunterstützungsprogramme wie Hippy und Obstapje. Bestandteil dieser Programme sind unter anderem regelmäßige Hausbesuche (14tägig) bei den Familien mit Kindern mit nachgewiesenem Förderbedarf. Insgesamt verstärken Einrichtungen der Familienbildung sowie der Kinder- und Jugendhilfe ihre strukturierte Kooperation mit den Kitas.

Unter anderem Stadtteilmütter sollen künftig helfen, Nicht-Kita-Kindern zu ermitteln. Denn auch diese Mädchen und Jungen werden der flächendeckenden Sprachstandsfeststellung unterzogen und nehmen an verbindlichen Fördermaßnahmen teil. Kitas, Familienzentren, Schule und eventuell weiteren Stellen führen sie anschließend durch.

Kritik des Deutschen Kitaverbands

Der Deutsche Kitaverband kritisiert den Ansatz. Nach Ansicht der im Verband organisierten Frühpädagogik-Fachleute basiert das Konzept auf einem verkürzten Lernbegriff. Es versuche Lernen durch Leistungsdruck, Zwang und Disziplin durchzusetzen und verkenne dabei die Lernlust und die Entwicklungsressourcen der Kinder. Das zugrundeliegende Menschenbild übertrage das System auch auf pädagogische Fachkräfte und Eltern, die ebenfalls durch Disziplinierung zum Mitmachen gezwungen würden.

Erkenntnisse über pädagogische Prozessqualität missachtet

Damit verneint das vorgestellte Konzept das, was aus Sicht des Deutsche Kitaverbands Grundlage einer hohen pädagogischen Prozessqualität ist: nämlich gute pädagogische Konzepte, gelebte eigene pädagogische Überzeugungen sowie eine hohe berufliche Motivation. Stattdessen sollen engmaschige Handlungsanweisungen und Durchführungskontrollen das künftige Berufsbild der Erzieherinnen und Erzieher formen.

Mittelweg finden

Der ganzheitliche Auftrag „Betreuen, Erziehen, Bilden“ verleite allerdings dazu, heißt es aus dem Verband, den „Bildungsaspekt“ vage zu fassen. Wenn nahezu alle Aktivitäten in den Tageseinrichtungen als „Bildung“ definiert werden könnten, dann eröffne das der Beliebigkeit sehr viel Raum. Doch ein verkürzter Lernbegriff, reduziert auf Leistungsdruck, Disziplin und Zwang, verkenne andererseits, dass Lernen – bei Kindern wie Erwachsenen – erst dann gut gelinge, wenn es intrinsisch motiviert sei und damit das eigene Wollen als Antrieb fungiere. Daher gelte es, einen guten Mittelweg zu finden. Validierte Qualitätskriterien könnten dabei helfen.

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