Rolf Schmidt, Geschäftsführer beim Kita- und Schulträger Erasmus Offenbach, beschreibt, wie historischer Ballast bis heute die Erzieher:innen-Ausbildung prägt und macht diese Tatsache auch für den Fachkräfteengpass in der Branche verantwortlich. Ein Meinungsbeitrag.

Dieser Text ist polemisch und stellt heilige Kühe in Frage. Die Schärfe der Polemik mag manchen nicht gefallen. Sie ist ein Versuch, dem Meer des Weichgespülten zu entkommen. Gleichwohl geht es um die Sache, die Frage nach der Berufsausbildung für die Arbeit in Kindertagesstätten und um die Frage, wer dort eigentlich eine Fachkraft ist. Es gibt keine Fachkraftkrise, aber es gibt eine Krise der Berufsausbildung, der ganzen Berufskonstruktion „Erzieherin“.

Wir bauen gerade ein Bildungshaus. Wer die Baustelle betritt, stößt auf ein Gewimmel von Kenntnissen und Kompetenzen, vom Dachdecker bis zur Landschaftsgärtnerin, von der Architektin bis zum Heizungsbauer. Es sind wohl über 20 berufliche Fachkompetenzen, die zusammenwirken, um das Haus zu erstellen. Jeder kennt wohl den bekannten Spruch „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu bilden und zu erziehen.“ Ein Dorf mit all seiner Vielfalt von Kenntnissen, Geschichten, Erfahrungen. Wir sind der Überzeugung, dass dieses Bild richtig ist und der Generalisten-Beruf „Erzieherin“ für eine gute Bildung und Erziehung NICHT ausreicht. Die quasi Monopolstellung des Berufs „Erzieherin“ in der Kita stellt ein überholtes und zu enges Korsett dar.

Was kennzeichnet den Beruf und die Erzieherinnenausbildung, und wie ist er im Berufsbildungssystem eingeordnet?

Der Beruf weist bis heute alle strukturellen Merkmale des speziell deutschen und im Kern reaktionären Konzeption des Frauenberufs auf: Der Beruf „Erzieherin“ ist kein grundständiger Beruf. Er ist als „Weiterbildung“ konfiguriert. Eine Weiterbildung – aber wovon, von welchem Ausgangspunkt und warum ist er eine Weiterbildung? Historisch war der Ausgangspunkt die reale und die „geistige Mütterlichkeit“. Aber heute? Warum gibt es über 320 Berufe, die grundständig als Erstausbildung im dualen System organisiert sind, warum bleiben die drei Frauenberufe – Erzieherin, Krankenpflegerin und Altenpflegerin – aber aus diesem System herausgenommen?

Die klassischen Frauenberufe haben die Strukturmerkmale einer unbezahlten Ausbildung (teilweise mit Schulgeld), langen Ausbildungszeiten, wenig Aufstiegsmöglichkeiten, schlechter (heute etwas besser gewordenen) Bezahlung und die komplette Herausnahme aus dem wissenschaftlichen System. Es ist mir im Rückblick unerklärlich, warum dieser deutsche Sonderweg der Frauenberufe die Frauenbewegung nach 1967 unbeschadet überstanden hat.

(Sosehr auch die frühe bürgerliche Frauenbewegung und die Gründerinnen der Kindergärten den Beruf und die Ausbildung mit dem Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ als „Emancipation“ der Frauen durch wohltätige Arbeit in den Kindergärten sahen).

Damit hat Deutschland weltweit neben Malta und der Schweiz eine Sonderstellung inne. In allen OECD-Staaten ist die professionelle Berufsausbildung für die frühkindliche Bildung im wissenschaftlichen Bereich angesiedelt und findet an wissenschaftlichen Hochschulen und nicht an vorwissenschaftlichen beruflichen Fachschulen statt.

Dieser deutsche Sonderweg ist nur aus der Geschichte und aus der scheinbar unüberwindlichen festen Mauer um diese „Weiterbildung“, aus den einbetonierten Standes- und Organisationsinteressen von Berufsschulen, Verbandsfunktionären und Trägern von Kindertagesstätten zu verstehen. Der deutsche Sonderweg ist historisch begründet, aber auch interessegeleitet. Ging es den Trägern – Kommunen, konfessionellen und säkularen freien Trägern – in der Vergangenheit wesentlich um geringe Personalkosten für die Betreuungsaufgaben, so kommen bei den Berufsschulen das Festhalten an der Macht der Monopolstellung und der damit verbundenen zahlreichen Stellen in der vollschulischen Ausbildung hinzu.

Die Universitäten und Hochschulen in Deutschland tragen eine große Mitverantwortung an der Missachtung und Misere der frühkindlichen Bildung. Es gab bis in die 2000er Jahre so gut wie keine repräsentative empirische Erforschung der frühkindlichen Bildungsprozesse, keine empirische Forschung der Realitäten in der Vorschulzeit. Die Zahl der Lehrstühle für Sinologie übertraf bis dahin die für die Erforschung der frühkindlichen Bildungsprozesse deutlich.

Deutschland hat mit dem BBiG das beste und freiheitlichste Berufsbildungsgesetz der Welt. Es ist das Beste, weil es die Frage der beruflichen Erstausbildung, des fachlichen Nachwuchses in die Hände der gesellschaftlichen Akteure der Zivilgesellschaft legt. Sie schließen einen Vertrag über eine Ausbildung, deren Inhalte und Formen, durch die die Zusammenarbeit vieler Akteure bundesweit einvernehmlich geregelt sind und immer wieder „modernisiert“ werden – in einem gesellschaftlichen Diskursprozess. Die gesellschaftlichen Akteure sind aufgerufen, die Frage des Nachwuchses zu klären und tragen die Verantwortung dafür. Im dualen System liegt die Nachwuchsfrage in der Hand der Akteure. In der Kita ist es für die Träger genau andersherum: Sie dürfen NICHT grundständig, aus eigener Entscheidung für den Beruf „Erzieherin“ ausbilden und eigenständig Ausbildungsverträge mit den Auszubildenden unterschreiben. Sie sind von einer „Weiterbildungsinstitution“ Fachschule nahezu komplett abhängig.

Der Hessische Bildungs- und Erziehungsplan (HBEP) fordert für die Arbeit in Kindertagesstätten über dreihundert Kompetenzen ein, die den Kindern vermittelt werden sollen. Das reicht – wir ersparen uns, alle aufzuzählen – von „die eigene Stimme entdecken“, Kenntnisse über die „Musikkultur in der Geschichte“ und über andere Musikkulturen erwerben, „Erfahrungen mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten“ sammeln, über die „Risikobewertung der Rohstoff- und Energiegewinnung“ etwas erlernen bis hin zur Medienkompetenz – „Hörspiele, Videofilme“ etc. aktiv produzieren usw. usw. Das ist alles gut gemeint mit dem HBEP, sicherlich ein Höhepunkt der idealistischen Pädagogik. Nur wenn ich als Kita-Träger eine Musikpädagogin, einen Theaterpädagogen, eine Umweltpädagogin, eine Tanzpädagogin, eine Sportlehrerin, eine Kinderpsychologin, eine Umweltpädagogin, eine Naturwissenschaftlerin, eine Logopädin, eine Medienpädagogin, oder einen Märchenerzähler einstelle, sind diese Personen fachlich nach dem HKJGB nichts, keine Fachkräfte, obwohl ihre Qualifikationen im HBEP gefordert sind.

Dieser konzeptionelle Irrsinn des Landes Hessen – zahlreiche gut gemeinte Kenntnisse und Kompetenzen im HBEP zu fordern, die beruflich dafür besonders qualifizierten Berufsgruppen aber vom Fachkraftstatus auszuschließen – findet seine Ursache nicht im gut Gemeinten, sondern im HKJGB. Das ist ein strammes nationaldeutsches Gesetz, in dem abschließend aufgezählt wird, wer in einer Kita als Fachkraft arbeiten darf. Natürlich sind die Kitas in diesem Gesetz reine, deutsche Kitas, schon Europa gibt es nicht: Das Gesetz zählt fünf DEUTSCHE Diplom-Abschlüsse auf – aus den Bereichen Pädagogik und Sozialpädagogik, zwei deutsche Lehrämter, die Sozialarbeiterin, die Erzieherin, die Heilpädagogin, die Kindheitspädagogin und frühpädagogische Bachelor-Abschlüsse.

Damit sind alle weiteren pädagogischen Qualifikationen ebenso vom Fachkraftstatus ausgeschlossen wie alle europäischen und außereuropäischen Abschlüsse. Bewerberinnen mit einem ausländischen Abschluss müssen durch ein oft jahrelanges Prüfungsverfahren dieser Abschlüsse, mit nicht selten negativem Ausgang oder zahlreichen Auflagen. Diese Menschen sollen, das ist klar, nicht die deutsche Kita verschandeln.

Dieses Problem ließe sich, wenn es gewollt wäre, einfach lösen: Eine zu erstellende Positivliste zumindest aller europäischen Abschlüsse, die in einem europäischen Land – in der Regel durch ein Hochschulstudium – zur Berufstätigkeit in der Kita befähigen und ohne weitere Prüfung in Hessen damit anerkannt wären. Im deutschen Sonderweg existiert aber Europa nicht. Die in Europa von allen europäischen Gremien – Europäisches Parlament, dem Europäischen Rat und der Kommission – beschlossene Umsetzung der Dreisprachigkeit auch in der frühkindlichen Bildung wird im Gesetz mit diesem abschließenden Fachkraftkatalog mit den Füßen getreten.

Spätestens seit der Einführung des HBEP ist der Fachkraftkatalog des HKJGB ein Dokument nationalstaatlichen Irrsinns. Diese Fachkräfte-Regelung ist in Verbindung mit der Konstruktion des Berufs als Weiterbildungsberuf die Ursache der Misere, die als sogenannte Fachkraftkrise vermarktet wird.

Was tun?

  1. Die gesetzliche Öffnung für multiprofessionelle und multinationale, multikulturelle, multisprachliche Teams in den Kindertagesstätten, gerade weil wir hohe Ansprüche an die Qualität der frühkindlichen Bildung in Europa stellen;
  2. eine Einführung einer dualen Ausbildung zur Erzieherin nach dem BBiG;
  3. ein massiver Ausbau der Studiengänge zur Kindheitspädagogik und frühkindlichen Bildung an den Hochschulen;
  4. die Öffnung des deutschen Fachkraftkatalogs hin zu einem multiprofessionalen und multinationalen Fächer von Qualifikationen

und die sogenannte Fachkraftkrise wäre als das zu erkennen, was sie ist: ein Fake.

Rolf Schmidt
Erasmus Offenbach
im Juni 2024

rolf.schmidt@erasmus-bildungshaus.de